„Wenn du mich anblickst, werd’ ich schön“ – Das Tal der Fruchtbarkeit und Gabriela Mistral

Im kleinen Norden Chiles liegt ein fruchtbares Tal: das Valle del Elqui ist 140 Kilometer Fruchtbarkeit.

Hier wachsen Trauben, die zu Wein verarbeitet werden oder auf dem sandigen Boden getrocknet werden. Es gibt Papayas, Zitronen, Limonen, Orangen, Manderinen, verschiedene Nüsse. Dann werden Avocado geerntet, Beeren, Pfirsiche, Aprikosen. Die Bauern pflanzen Tomaten, Mais, Kartoffeln, Brokkoli, Zuccheti, Sellerie, Rüebli, Bohnen, Erbsen. Und alles wächst und gedeiht. Viermal im Jahr wird geerntet.

P1030505Die Kakteenfrüchte sind erfrischend – ähnlich wie eine Kiwi. Sie werden aufgeschnitten und mit etwas Zucker direkt aus der Schale gelöffelt.

Bei den Trauben gibt es auch eine süsse Sorte, die für den Pisco gebraucht wird. Die Traube wird lange an der Sonne belassen und spät geerntet. Dann kommt sie in einer Destillerie gepresst in einen Tank, wo sie einige Tage bleibt. Nachher wird der süsse Saft (ohne Traubenresten) gebrannt. Resultat ist ein Traubenschnaps, der die Grundlage ist für verschiedene chilenische Drinks. Am beliebtesten wohl der Pisco Sour mit Zucker und Zitrone.P1030517

Grund für die immense Fruchtbarkeit des Tales ist der mineralstoffreiche Boden, das Wasser des Elqui-Flusses und die klimatische Besonderheit, dass es in diesem Tal fast nie bewölkt ist. Eine Inversions-Wolke über der nahen Küstenstadt La Serena hält das schlechte Wetter zuverlässig fern. Nur an zwanzig Tagen pro Jahr scheint hier die Sonne nicht. Deshalb stehen auf den Hügeln rund herum die grössten und die wichtigsten P1030545Observatorien der astronomischen Wissenschaft. (vgl. dazu ein späterer Blog-Beitrag)

Das ländlich geprägte Tal ist auch geistig fruchtbar. Im hintersten Flecken, Pisco Elqui haben sich Aussteigerinnen, Anhänger verschiedener Naturphilosophien oder asiatischer Religionen, Strassenkünstler, UFO-Gläubige, Esoteriker angesiedelt. Sie spüren in diesem Tal eine „besondere Energie“. (Der Name des Dorfes stammt aus einem bizarren Streit zwischen Chile und Peru um die Domäne „Pisco“. Mit der Umbenennung des Dorfes wollte Chile bekräftigen, dass der echte Pisco nur hier wächst).Gabriela Mistral

Eine Entdeckung für uns ist eine Nobelpreisträgerin für Literatur, die in diesem Tal verwurzelt war:
Gabriela Mistral
. Uns gänzlich unbekannt, stehen wir staunend in einem Museum in ihrem Geburtsort Vicuña und in ihrem Geburtshaus in Monte Grande. Die Dichterin wurde 1887 als Lucila Godoy Alcayaga geboren.

Wenn du mich anblickst, werd’ ich schön

Wir sehen einen Zeitungsartikel von 1904, den sie mit 15 Jahren schrieb, und in dem sie das Recht der Mädchen und Frauen auf Bildung einforderte. Aufgewachsen mit einer rund zwanzig Jahre älteren Schwester, die Lehrerin im Dorf war, las sie früh Bücher. Der Zugang zur eigenen Lehrerinnen-Ausbildung wurde ihr zunächst aufgrund ihrer fortschrittlichen Haltung verwehrt. Sie erkämpfte sich dennoch die Berechtigung, Kinder zu unterrichten. Später war sie Diplomatin und setzte sich weltweit für Menschen- und Frauenrechte ein. Ihre empfindsame Lyrik ist schwermütig und befasst sich mit Liebe, mit der Kindheit und mit ihrer Heimat im Valle del Elqui. 1945 erhielt sie als erste Frau Lateinamerikas den Nobelpreis für Literatur. Ihre Verse werden kaum mehr gelesen. Ihr Figur ist in Chile aber nach wie vor ein Symbol – natürlich auch überhöht und geschönt. Die Brüche in ihrem Leben werden zum Beispiel im Museum nicht dargestellt. Der englischsprachige Guide wendet sich in einem kurzen Moment nur an uns und erzählt nur in Englisch die wenigen Stücke, die in der offiziellen Ausstellung fehlen. Dass ihr adoptierter Neffe wahrscheinlich ihr unehelicher Sohn war, darf niemand laut aussprechen. Oder dass sie zwei Frauen als Geliebte hatte, ist ebenfalls tabu. Diese Information unterschlägt der zweisprachige Guide seinen chilenischen Besuchern. Er übersetzt sie nicht.

Wieder zu Hause recherchieren wir. Und wir stossen auf tolle Texte, die auch österliche Dimension haben. In einem pdf-Dokument gibt es auf Deutsch eine gute Einführung zur Literatur von Gabriela Mistral mit ihren theologischen Bezügen. Hier downloaden. 1957 starb die Dichterin, die mit ihrem Herz für Kinder in Chile unvergessen ist.

 

Als Ostergedicht mitten in der Fruchtbarkeit eines faszinierenden Tals ein Credo von Gabriela Mistral:

CREDO

Ich glaube an mein Herz, Strauß aus Düften, den mein Herr wie ein Walddach erregt, durchduftend mit Liebe das ganze Leben, macht er es gesegnet.

 

Ich glaube an mein Herz, das sich nichts erfleht, weil es des höchsten Traumes fähig, in ihm die Schöpfung liebend umfängt: unermesslicher Herr!

 

Ich glaube an mein Herz, das, wenn es singt, die Wunde seiner Seite in Gottes Tiefe taucht, um aus ihr, dem Brunnen des Lebens, aufzuerstehen.

 

Ich glaube an mein Herz, das schwingt und wogt, weil der es schuf, die Meere aufgewühlt, in ihm schlägt das Leben Akkorde an, wie tönende Meeresflut.

 

Ich glaube an mein Herz, das ich presse, um das Linnen des Lebens zu färben, purpurn oder blau, und es machte zum Feuergewand.

 

Ich glaube an mein Herz, das beim Säen in die nie endende Furche wuchs. Ich glaube an mein Herz, das sich unaufhörlich ergießt, ohne sich je zu leeren.

 

Ich glaube an mein Herz, an dem der Wurm nicht nagen wird, denn es wird dem Tod die Zähne ausbrechen. Ich glaube an mein Herz, es ruht an der Brust des schrecklichen und starken Gottes.

Druckfassung erschienen in: Annegret Langenhorst/Johannes Meier/Susanne Reick (Hg.), Mit Leidenschaft leben und glauben. 12 starke Frauen Lateinamerikas, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2010, S. 8-27

2 Gedanken zu “„Wenn du mich anblickst, werd’ ich schön“ – Das Tal der Fruchtbarkeit und Gabriela Mistral

  1. Ihr Lieben! Danke, für dieses eindrückliche Credo! Haben wir euch eigentlich schon für die Postkarte von den „Iguazufalls“ gedankt? Sie freut uns sehr.

    Herzlich
    Eva

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