Exnovation in der Kirche: Der adaptive Kreislauf und die Kunst der schöpferischen Freisetzung

Exnovation, das bewusste Loslassen von Altem, ist ein entscheidender Prozess in der Kirche, im Pfarrberuf und in allen kirchlichen Berufen. Um diese Dynamik besser zu verstehen, ist der adaptive Kreislauf von L. Gunderson und C.S. Holling (2002) hilfreich. Gunderson und Holling sind weltbekannte Umweltökologen und Resilienzforscher. Sie haben unter anderem aufgrund von Beobachtungen bei kanadischen Waldbränden die Theorie des adaptiven Kreislaufs (später auch Verbindungen von mehreren Zyklen im Konzept der Panarchie) entwickelt.

Er beschreibt – grafisch in einer liegenden Acht – die natürlichen Phasen des Wandels und der Anpassung in einem ökologischen System. So sind Waldbrände zwar eine verheerende Zerstörung, gleichzeitig schaffen sie die Voraussetzung für neues Leben und dadurch für die Erhaltung des Waldes. Der Brand setzt Nährstoffe, Energie und Raum frei für Wachstum. Später wurde dieser Kreislauf auch auf öko-soziale Systeme übertragen. Der Kreislauf ist auch in der kirchlichen Arbeit relevant, um innovative Ansätze zu entwickeln und alte Strukturen zu überdenken.

Grafik: Thomas Schaufelberger, nach Baltimore Ecosystem Studiy Urban Lexicon

Der adaptive Kreislauf

Der adaptive Kreislauf besteht aus vier Phasen: Exploitation (r), Conservation (K), Release (Ω) und Reorganization (α).

Die „r“-Phase (Exploitation = Ausbeutung oder Wachstum) ist durch Wachstum, durch das Nutzen bestehender Ressourcen und Traditionen und durch eine stete Entwicklung gekennzeichnet. Während das System wächst und Ressourcen anhäuft, stabilisiert sich seine Struktur und seine Prozesse bilden mehr Verbindungen. Hier geht es darum, mit dem Bestehenden zu wuchern. Was sich bewährt, soll weiter ausgebaut und verbessert werden. Diese Phase mit kreativer Organisation, Tradition, zunehmender Komplexität und zunehmenden Verbindungen zwischen den Teilen des Systems führt zu einer abnehmenden Flexibilität des Systems und geht in die „K“-Phase über.

Die „K“- oder Erhaltungsphase (Conversation = Erhaltung) ist durch stabile, starre Strukturen und Prozesse definiert, die Energie einsparen. In dieser Phase verändert sich das System in der Regel kaum, da es weniger flexibel und anpassungsfähig ist als in den anderen Phasen. Die Conservation-Phase beinhaltet den Schutz und die Erhaltung des Vorhandenen. Dies macht das System jedoch starrer und weniger anpassungsfähig an Störungen. Die Energieerhaltung macht es wahrscheinlicher, dass das System in die „Ω“- oder Freisetzungsphase kippt. Die Gefahr an dieser Stelle ist, dass das System zu starr ist und auch bei einsetzender Störung gelähmt bleibt. Das Eintreten in die nächste Phase gelingt dann nicht mehr.

Die „Ω“- oder Freisetzungsphase (Release = Freisetzung) ist durch einen Zusammenbruch gekennzeichnet, der durch eine Störung erfolgt. Das System kann in seiner jetzigen Form nicht mehr standhalten, wobei die in der „K“-Phase angesammelte konservierte Energie freigesetzt wird. Beim Waldbrand geht nichts verloren, sondern alle Energie verwandelt sich in Asche, Nährstoffe und Wärme. Um Innovation zu ermöglichen, ist es wichtig, diese Release-Phase zuzulassen, in der Altes losgelassen und Raum für Neues geschaffen wird.

Die „α“-Phase ist ein besonders kritischer Punkt, denn sie ist durch eine Reorganisation des Systems gekennzeichnet. In der Reorganization-Phase können wieder innovative Ideen und Ansätze implementiert werden. Diese Reorganisation kann ähnlich aussehen wie vor dem Zusammenbruch, sie kann aber auch so drastisch anders aussehen als das vorherige System, dass es nicht wiederzuerkennen ist. Die Gefahr in dieser Phase ist, dass viele mehr oder weniger kreative Ideen nicht wirklich die Kraft haben, wieder in eine Wachstumsphase zu kommen. Dann verpufft das System und es endet möglicherweise.

Kreativität entsteht aus der Freisetzung gebundener Energie

Der im Modell besschriebene Prozess der Exnovation und Neuerfindung findet Parallelen zur „schöpferischen Destruktion“ von Joseph Schumpeter. Schumpeter – ein österreichischer Ökonom und Politiker – betonte anfangs des letzten Jahrhunderts, dass Innovation und Fortschritt untrennbar mit der Beseitigung veralteter Strukturen und Praktiken verbunden sind. Sowohl in natürlichen als auch in wirtschaftlichen Systemen schien nach einer Wachstumsphase, gefolgt von einer Phase, in der dieses Wachstum konserviert wurde, die Notwendigkeit einer Freisetzung zu bestehen. Wenn es nicht gelingt, die Kreativität für die nächste Phase freizusetzen, entsteht eine Starrheit des Systems, die Holling als „Starrheitsfalle“ bezeichnete. In der Kirche bedeutet dies, dass eingefahrenen Mustern und überholten Traditionen transformiert werden müssen, um Raum für neue Formen des Glaubens und der Gemeinschaft zu schaffen.

Die Perspektive von den Rändern her behalten

Veränderungen dieser Art sind immer schwierig. Oft bedeutet es, mit etwas aufzuhören, das wir jahrelang getan haben. Es kann bedeuten, einen Arbeitsplatz zu verlassen, ein Programm zu beenden, einen Ansatz oder ein System aufzugeben, das uns gute Dienste geleistet hat. Aber der adaptive Kreislauf sagt uns, dass es schwer ist, etwas Neues zu schaffen oder die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten, wenn wir nicht regelmäßig die Ressourcen an Zeit, Energie, Geld und Fähigkeiten freisetzen, die in unseren Routinen und unseren Institutionen gebunden sind. Ohne diese neuen Perspektiven und die ständige Einbringung von Neuem und Innovativem in unser Leben, unsere Organisationen und unsere Systeme kommt es zu einem langsamen, aber eindeutigen Verlust an Widerstandsfähigkeit und zu einer zunehmenden Starrheit.

Hollings Botschaft lautet, dass das Festhalten an dem, was wir am besten können, wenn es nicht mehr funktioniert, eine Falle ist. Auch wenn es nicht leicht fällt: Wichtig ist „zu sehen“ – die Perspektive zu wahren, die periphere Sicht beibehalten. „Hören“ und wahrnehmen, dass Veränderungen notwendig sind, damit etwas Neues in die Welt kommt. Und für manche wird sich diese Veränderung wie ein Verlust des liebgewonnenen, vertrauten und sicheren Lebens anfühlen.

Sechs Methoden für die schöpferische Freisetzung

In der pastorale Arbeit können verschiedene Methoden angewendet werden, um Exnovation zu fördern:

1 Hinhören einüben

Als Kirchgemeinde regelmässig üben, die Fragen, die der Sozialraum stellt, zu hören. Ein paar Elemente könnten sein:

  • Statistisches Material miteinander betrachten und analysieren,
  • Als Referent eine Perspektive von ausserhalb der Kirche einladen: Die Gemeindepräsidentin einladen, den Schulsozialarbeiter, einen Polizisten im Dorf, eine Ladenbesitzerin, ein Vereinspräsidium,
  • Alle Arten von Gemeindespaziergängen – auch gemeinsam: Wir spazieren eine halbe Stunde durch ein Quartier und tragen alle Eindrücke zusammen, die uns aufgefallen sind,
  • Qualitative Interviews,
  • Hinhören auf den wirklichen Bedarf der Menschen im Sozialraum.

2. Eine Kultur der Evaluation etablieren

Als Kirchgemeinde oder Pfarr-/Mitarbeitenden-Team regelmässig überprüfen, ob die Arbeitspakete ihre erwartete Wirkung erzielen.

  • Bei bestehenden und neuen Programmen und Arbeitsbereichen festlegen, welche Ziele erreicht werden sollen. Was soll das direkt Sichtbare sein? Was ist in der Kirchgemeinde anders, wenn es dieses Programm gibt? Welche Auswirkungen sind in der Gesellschaft zu erwarten, wenn wir an diesem Programm festhalten?
  • Legislaturziele festlegen um die Ressourcen auf eine gemeinsame Ausrichtung hin zu bündeln. Überprüfen, ob die erwartete Wirkung eingetreten ist und darauf achten, dass bei neuen Legislaturzielen auch die nicht wirksamen Elemente abgebaut werden.
  • Evaluation als Qualitätsmerkmal in allen Gespräche über Programme fix einbauen – gemeinsam mit allen Beteiligten und Betroffenen.
  • Standardmässig Daten erheben: Teilnehmenden-Zufriedenheit, Zahlen.

3. Schutz der Innovation und Begründungspflicht des Bestehenden einführen

In Kirchgemeinden und in Pflichtenheften von Mitarbeitenden ist das Bestehende oft nicht begründunspflichtig. Alles Neue hingegen muss gegen viel Widerstand erkämpft werden und bleibt bedroht. Deshalb muss Innovation bewusst geschützt werden und soll das Bestehende ebenfalls begründungspflichtig werden – zum Beispiel bei Budget-Prozessen.

  • Hier hilft regelmässige Selbstreflexion und kritische Überprfüung bestehender Programm und Handlungsschwerpunkte,
  • Überholte Strukturen identifizieren, Bürokratie abbauen, Redundanz vermeiden,
  • Die Einbindung der Gemeindemitglieder und anderer Beteiligter in Entscheidungsprozesse ermöglicht es, verschiedene Perspektiven zu hören und gemeinsam neue Wege zu finden.

4. Budgetprozesse und Ressourcenverteilung

Exnovationsprozesse sind Umverteilungsprozesse. Es geht um Priorisierungen, die in einem System gemeinsam, partizipativ entwickelt und diskutiert (auch in der Auseinandersetzung) werden müssen.

  • Budgetprozesse so gestalten, dass im Vorfeld genügend Zeit bleibt, über Exnovation nachzudenken. Raum für kritische Reflexion und Überprüfung bestehender Programm und Handlungsschwerpunkte.
  • Ressourcen für Innovation bewusst einplanen. Zum Beispiel, indem standardmässige Quoten für Zeit und Geld bei Mitarbeitenden budgetiert und vereinbart werden. 20% zeitlichen Freiraum für alle Aufgabenbeschriebe, wäre ein Beispiel.
  • Nach partizipativen oder konsultativen Prozessen verbindlich Entscheidungen über mit Mittelverteilung fällen und dabei bleiben. Ihre Verbindlichkeit einfordern – auch gegen Widerstand.

5. Staffeln statt ewige Folgen

Kirchgemeinden sollten versuchen, möglichst alle „Angebote“ nur noch als Staffeln anzubieten. Im Unterschied zu ewigen Serien endet die Staffel nach einer im Vorfeld bestimmten Anzahl Durchführungen automatisch. Dann stellt sich die Frage, ob eine zweite Staffel aufgrund des Erfolgs angeboten wird oder nicht. Pfarrer Jonas Goebel hat mit dieser „Netflix“-Methode experimentiert (ein Interview mit ihm ist hier nachzulesen). Vorstellbar wäre auch, dass in einer grösseren Kirchgemeinde oder in einer Region ausgefeilte Gottesdienste während ein paar Wochen „gespielt“ werden – immer genau gleich. Wichtig ist dabei:

  • Die Einbindung der Gemeindemitglieder und anderer Beteiligter in Entscheidungsprozesse ermöglicht es, verschiedene Perspektiven zu hören und gemeinsam neue Wege zu finden.
  • Experimentieren und Lernen: Durch das Ausprobieren neuer Ideen und das Lernen aus Fehlern können innovative Ansätze entwickelt und umgesetzt werden.

6. Offene Kommunikation und transparente Kultur:

Die Exnovations-Kultur muss systematisch gelebt und kommuniziert werden. Sie gilt für alle – sichtbar. Die Kirchgemeindeleitung sorgt dafür, dass keine Ungerechtigkeiten entstehen. Die Mitarbeitenden tragen den Prozess spürbar mit und haben Lust darauf.

  • Eine offene und transparente Kommunikation über die Notwendigkeit von Veränderungen und die Gründe für Exnovation fördert das Verständnis und die Akzeptanz in der Kirchgemeinde.
  • Regelmäsige Kulturarbeit und Räume für Widerstand und Angst besteht.

Nur durch das bewusste Loslassen des Alten können wir Platz für Innovation und einen zukunftsfähigen Wandel schaffen.

Der adaptive Kreislauf und die Kunst der schöpferischen Freisetzung lassen sich nutzen, um Exnovation in der Kirche und im Pfarrberuf/in kirchlichen Berufen voranzutreiben. Nur durch das bewusste Loslassen des Alten können wir Platz für Innovation und einen zukunftsfähigen Wandel schaffen.

Lesen Sie weiter! Ein weiterer Blog-Beitrag zu Exnovation in der Kirche gibt konkrete Methoden und Anregungen für Exnovation in Kirchgemeinden: Pfingsten oder den Mut haben, Altes lozulassen.

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